Die Emerging Markets entwickeln sich ständig weiter und werden zu einem der wichtigsten Faktoren für das Weltwirtschaftswachstum. Weil die Kapitalflüsse gestiegen sind und immer mehr Informationen zur Verfügung stehen, sind alternative Möglichkeiten für die Anlage in diese Assetklasse entstanden. In diesem Kapitel befassen wir uns mit der Ausweitung der Chancen an den Emerging Markets über die traditionellen Landesgrenzen hinweg. Wir konzentrieren uns auf erfolgreiche Unternehmen, die wichtige langfristige Trends in aufstrebenden Ländern nutzen.
Paradigmenwechsel an den Emerging Markets
Einer der größten Fortschritte bei Emerging-Market-Anlagen in den letzten Jahren ist die Aufnahme chinesischer A-Shares in internationale Indizes. Indexanbieter wie MSCI haben China in ihre Benchmarks aufgenommen, nachdem die chinesische Regierung ihren Finanzmarkt zunehmend auch ausländischen Investoren öffnet.
Angesichts der Größe des chinesischen Finanzmarktes hat diese Aufnahme in die Indizes Bedenken ausgelöst, dass sie bald von einem einzigen Land dominiert werden. Für passive Investoren könnten Konzentrationsrisiken entstehen, weil die Zusammensetzung ihrer Portfolios von der Indexstruktur abhängt und nicht davon, wo sich die vielleicht interessantesten Chancen bieten. Deshalb ist es vielleicht Zeit, sich über eine andere Strategie Gedanken zu machen, um Anlagechancen in den Emerging Markets zu nutzen.
Eine weitere wichtige Entwicklung ist die zunehmende Abhängigkeit von globalen Lieferketten. Heute haben Unternehmen häufig in mehreren Ländern Kunden, Zulieferer und Produktionsketten, und einige davon in den Emerging Markets. Dennoch halten Anleger oft an Asset-Allokationsansätzen fest, bei denen die Portfoliostruktur davon abhängt, wo Unternehmen ihren Sitz haben, und nicht davon, wo und wie sie ihre Geschäfte tätigen. Obgleich traditionelle sitzlandgebundene Ansätze seit vielen Jahren bewährt und erprobt sind, geben die danach konstruierten Portfolios möglicherweise weder die für die Unternehmen maßgeblichen Fundamentaldaten wieder noch die entsprechenden Risiken und Chancen.
Zwei Branchen sind bei Anlagen in Unternehmen aus den Emerging Markets immer unterrepräsentiert: Luxusgüter und Gesundheit. Beide verzeichnen in den Schwellenländern ein starkes Nachfragewachstum. Beispielsweise werden die Umsätze des französischen Luxusgüterkonzerns LVMH stark von den Emerging Markets bestimmt, vor allem von China, wo es kein vergleichbares Unternehmen gibt. Ähnliches gilt auch für AstraZeneca. Im Geschäftsjahr 2019 hat das britische Pharmaunternehmen 35% seiner gesamten Produktumsätze in den Emerging Markets erzielt. Außerdem wächst die Pharmabranche stark, mit China an der Spitze, wo der Produktumsatz 2019 um 29% gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist.1
Die folgende Abbildung zeigt einige der Emerging-Market-Chancen, die man mit einem unternehmenssitzorientierten Ansatz möglicherweise verpasst.
1 Quelle: AstraZeneca
Weltweite Branchenführer haben ihren Sitz häufig in Industrieländern
Diese Angaben dienen nur der Information. Sie sind kein Angebot, keine Aufforderung und keine Empfehlung zum Kauf oder zum Verkauf der hier erwähnten Wertpapiere oder Anlageinstrumente. Die Auswahl der Unternehmen erfolgte auf Basis ihrer Marktkapitalisierung innerhalb des MSCI ACWI (zehn größte Unternehmen im jeweiligen Sektor) und dient nur zur Illustration. Stand der Daten 31. Dezember 2019. Quellen: MSCI, FactSet
Das neue Länderkonzept
Eine Ergänzung des traditionellen, sitzlandabhängigen Ansatzes ist die Betrachtung der Umsätze, um zu analysieren, wo ein Unternehmen geschäftlich „zu Hause“ ist. Beispielsweise kann ein umsatzorientierter Ansatz helfen, Unternehmen zu erkennen, die vom schnellen Wachstum der Mittelschicht in aufstrebenden Ländern oder von der Entwicklung neuer Technologien und Gesundheitslösungen profitieren, unabhängig davon, wo sie ihren Sitz haben. Wir nennen dieses Konzept, bei dem wir uns genau ansehen, wo ein Unternehmen seine Umsätze erzielt, New Geography of InvestingSM.
Die folgende Abbildung des MSCI All Country World Index, des am weitesten gefassten globalen Aktienindex, zeigt, wie sinnvoll dieser Ansatz ist. An einem nach dem Sitz der Indexunternehmen zusammengestellten globalen Portfolio hätten die Emerging Markets gemessen an der Marktkapitalisierung nur 12% Anteil. Bei einer Portfoliozusammenstellung danach, wo die Indexunternehmen ihren Umsatz erzielen, entfielen über 25% der weltweiten Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen auf die Emerging Markets.2
Daher könnten Investoren, die auf der Suche nach neuen Ideen für Anlagen in die Emerging Markets sind, in Erwägung ziehen, Chancen zu nutzen, wo sie sich bieten, und Portfolios auf der Grundlage von Anlagezielen zusammenzustellen. Zum Beispiel sind die langfristigen Wachstumschancen im Cloud-Computing, bei Biopharmazeutika oder im internationalen Flugverkehr völlig unabhängig vom Unternehmenssitz. Unternehmen sowohl aus Emerging Markets als auch aus Industrieländern können von diesen Wachstumschancen profitieren.
2 Stand der Daten 31. Dezember 2019. Quelle: MSCI
Hergestellt in Industrieländern, gekauft in Schwellenländern
Stand der Daten 31. Dezember 2019. Quelle: MSCI
Chancen und Risiken
Investoren sollten auch bedenken, dass Anlagen in Emerging Markets mit besonderen Risiken verbunden sind. Beispielsweise hat die COVID-19-Pandemie gezeigt, wie langsam politische Entscheidungen in manchen Schwellenländern getroffen werden – aufgrund staatlicher Einschränkungen oder schlechter Führung. In den Industrieländern war das ganz anders. Hier haben die politischen Entscheidungen und Maßnahmen den Aktienmärkten durch die Krise geholfen.
Als einzelwertorientierter Assetmanager investiert die Capital Group in Unternehmen, nicht in breite Märkte oder Länder. In jedem dieser Märkte gibt es einzelne Unternehmen, die unabhängig von der Konjunktur in ihrem Land erfolgreich sein können. Ein Beispiel ist die argentinische Onlinehandels-Plattform MercadoLibre, die den größten Teil ihrer Umsätze in Argentinien und Brasilien erzielt, zwei Ländern mit enormen Finanzproblemen. Dennoch ist der Onlinehandelsumsatz von MercadoLibre im 1. Quartal 2020 ordentlich gestiegen, und auch sein FinTech-Angebot wurde schon vor COVID-19 stärker angenommen. Durch den Ausbruch des Virus und die Lockdowns hat sich dieser Trend noch einmal verstärkt. Dies zeigt, dass einzelne Unternehmen trotz wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit wachsen könn. Die Kombination aus COVID-19, internationalen Handelsspannungen und schwächerem Wirtschaftswachstum dürfte kurz- bis mittelfristig zu volatileren Märkten beitragen. Dennoch sehen wir weiter Investmentchancen in den Emerging Markets, die von den folgenden längerfristigen Trends profitieren können: (1) Wachstum des mobilen Onlinehandels und mobiler Dienstleistungen, (2) anhaltendes Wachstum der Zahl der Konsumenten vor Ort, (3) Halbleiter, die bei Künstlicher Intelligenz, beim Cloud-Computing und der Fabrikautomation eingesetzt werden, und (4) eine Bevölkerung, die sich immer stärker für bessere Gesundheitsprodukte und -leistungen interessiert.
Neben den Emerging Markets bieten sich auch Chancen in Bereichen, die von globalen Investoren bislang noch wenig beachtet werden, beispielsweise an den Frontiermärkten. Viele traditionelle Emerging Markets wie Mexiko, Taiwan oder Südkorea haben sich mittlerweile sehr stark entwickelt, mit stabileren Staatsorganen und einer besseren Infrastruktur. Deshalb werden sie vermutlich in Zukunft nicht mehr so stark wachsen wie in den letzten Jahrzehnten. Unterdessen sind ihre Finanzmärkte vielfältiger geworden, und die Risikoprämien sind zurückgegangen – ebenso wie die erwarteten Erträge von Emerging-Market-Anlagen. Im Gegensatz dazu befinden sich viele Frontiermärkte wie Kenia, Sri Lanka und Bangladesch noch am Anfang ihrer (wirtschaftlichen, politischen und finanziellen) Entwicklung und weisen viele der positiven Eigenschaften auf wie anfangs die Emerging Markets. Das Aktienangebot an den Frontiermärkten ist bislang aber noch klein und stammt häufig aus traditionellen Wirtschaftszweigen. Mit einem neuen Länderkonzept lassen sich deshalb hier vermutlich Chancen gut nutzen. Der Bereich Nahrungsmittel-Lieferservice ist beispielsweise sowohl in Ländern mit hoher Bevölkerungsdichte erfolgversprechend als auch in Märkten mit einer bislang schwachen Verbreitung, aber starken Wachstumsaussichten und einem großen Einkommensgefälle. Deshalb sind hier die Chancen an den Frontiermärkten besonders groß. Ein Unternehmen, das diese Versorgungslücke nutzen kann, ist Delivery Hero aus Deutschland, das in den letzten Jahren in mehreren Ländern des Nahen Ostens stark gewachsen ist. Dennoch hätten Investoren, die stärker in die Frontiermärkte investieren wollen, dieses Unternehmen übersehen, wenn sie einen traditionellen Länderansatz verfolgt hätten.
Fazit
Bei Emerging-Market-Anlagen ist der Export nicht mehr das Thema Nummer 1. Längerfristig unterscheiden sich die Entwicklungen von Konsum und Inlandswachstum der Emerging Markets oft voneinander. Da die internationalen Märkte aufgrund länderübergreifender Aktivitäten, Handel und Investitionen immer stärker miteinander verflochten sind, spiegeln die traditionellen Strategien für Emerging-Market-Anlagen die damit verbundenen Chancen und Risiken möglicherweise nicht mehr optimal wider. Wir bei der Capital Group sind von einem anderen Ansatz überzeugt: Die Analyse von Unternehmen und die Zusammenstellung von Portfolios danach, wo sie ihren Umsatz erzielen, und nicht nach ihrem Sitz.
In den letzten Kapiteln haben wir analysiert, ob die Emerging Markets trotz des derzeit volatilen Umfelds weiter so stark wachsen können wie bisher, und uns mit der Frage befasst, wie sich Emerging-Market-Aktien- und -Anleihenmärkte in den nächsten zehn Jahren entwickeln dürften. Im nächsten Kapitel geht es nicht um eine bestimmte Assetklasse, sondern darum, was bei der Portfoliokonstruktion zu beachten ist, und um die zahlreichen Vorteile einer Aufnahme von Schwellenländerpapieren in ein Portfolio.
Die Ergebnisse der Vergangenheit sind keine Garantie für künftige Ergebnisse. Die Emerging-Market-Länder sind volatil und können illiquide werden. Diese Informationen sind weder als umfassend noch als Beratung zu verstehen.Diese Angaben dienen nur der Information. Sie sind kein Angebot, keine Aufforderung und keine Empfehlung zum Kauf oder zum Verkauf der hier erwähnten Wertpapiere oder Anlageinstrumente.